Academia.eduAcademia.edu
Frühmittelalter AUSGRABUNGEN UND FUNDE Archäologie in Westfalen-Lippe 2010 Anna-Helena Schubert Original oder Imitation? Zwei karolingische Fibeln aus dem Raum Erwitte Kreis Soest, Regierungsbezirk Arnsberg Die fundreiche Bördelandschaft zwischen der Lippe und der Anhöhe der Haar hat seit Generationen nicht nur die Archäologen, sondern auch historisch interessierte Bürger immer wieder aufs Neue beschäftigt. Waren es früher nur Zufallsfunde, die bei landwirtschaftlichen Tätigkeiten oder bei Baumaßnahmen zutage kamen, werden die Fachämter heute mit Funden konfrontiert, die gezielt mit modernen technischen Geräten ermittelt wurden. Zu diesen zählen die Metallsonden. Wie hilfreich die Prospektion der Humusbereiche mit einem Metalldetektor – nach Absprache mit den Denkmalämtern – sein kann, bestätigen die zahlreichen Neufunde in der Region. Besonders zwei unscheinbare Bleiobjekte im Raum Erwitte-Bad Westernkotten verdeutlichen, mit welchem unerwarteten Reichtum auch heute noch in einer alten Kulturlandschaft zu rechnen ist. Diese recht seltenen Funde verdanken wir den beiden erfahrenen Sondengängern Fritz Dietz und Jan Koch, die seit Jahren sehr erfolgreich mit der LWL-Archäologie für Westfalen, Außenstelle Olpe, zusammenarbeiten. Ein Dankeschön gilt auch Klaus Röttger, der die Materialbestimmung durchgeführt hat. Bei den Objekten (Abb. 1) handelt es sich um zwei plastisch verzierte, teilweise beschädigte, rechteckige Fibeln aus Blei. Das kleinere Stück ist etwa zur Hälfte erhalten und trägt die gleiche Verzierung wie das größere Exemplar. Nicht nur die Zierelemente, sondern auch ihre Fundlage weisen auf eine Zusammengehörigkeit hin. Sie stammen nämlich von ein und derselben Fundstelle. Das vollständig erhaltene, rechteckige Exemplar ist 3,0 cm x 2,0 cm groß und fügt sich mit seinem Quotienten von 1,4 recht gut in das Proportionenschema der frühmittelalterlichen Rechteckibeln ein. Etwas ungewöhnlich wirkt die »dreidimensionale« Verzierung des Stückes. Das Mittelfeld der Schauseite ist weder lach noch plateauförmig gestaltet, sondern leicht eingelassen und von einem umlaufenden Zierband eingefasst. Die Hauptelemente des Ornamentes bilden drei in einer Reihe angebrachte Buckel, 124 welche jeweils von einer kurzen runden, aber kräftigen Fassung umschlossen werden. Vier Paare von kleinen Kügelchen begrenzen zusätzlich die Flächen um die Halbkugeln. Damit wird das Mittelfeld nicht nur in drei Felder gegliedert, sondern auch der Gesamteindruck der Verzierung plastischer. Die lache und höher liegende Randbegrenzung der zentralen Schauläche ist umlaufend mit dicht nebeneinandergesetzten, unregelmäßig runden Einstichen verziert. Möglicherweise sollte das Zierelement den Eindruck eines stilisierten Perldrahtes wiedergeben. Die nach außen abgeschrägten Seitenkanten sind an den Ecken mit lachen Rundeln versehen, welche in der Mitte jeweils eine kleine Delle aufweisen. Die Rückseite des Fundes ist plan, leicht patiniert und mit Rostspuren partiell überzogen. Die dazugehörige Ansteckvorrichtung ist nur zum Teil erhalten. Sie besteht aus einer unförmigen eisenhaltigen Verdickung, der gegenüber eine fragmentarisch erhaltene Nadelrast sitzt. Deren bandförmiger und stark gebogener Körper ist nicht parallel, sondern schräg zur Nadelachse angebracht, was ihre Haftung an einer organischen Unterlage erschwert haben muss. Das zweite, stark verzogene Objekt, welches nur zur Hälfte vorliegt, trägt eindeutig dieselbe Verzierung wie der erste Fund. Von der Nadelhalterung auf der leicht gewölbten Rückseite ist ebenfalls nur ein Bruchstück der Nadelrast vorhanden, welches diesmal aber parallel zur Achse sitzt. Obwohl die beiden Stücke fast identisch sind, lassen sich deutliche Unterschiede in ihrer Ausführung ausmachen. Das muss nicht nur am Werkstoff Blei liegen, der wesentlich leichter verformbar als eine Kupferlegierung ist. Die »Schönheitsfehler« können nämlich auch als ein Hinweis auf die Herstellungsweise der beiden Funde gedeutet werden. Trotz der schrägen Stellung der Nadelrast erlauben es die Rostspuren, das größere Exemplar als ein Fertigprodukt einer Rechteckibel und nicht als Model einer solchen zu identiizieren. In der Regel ist es sehr schwierig, zwischen diesen beiden Varianten zu unterscheiden. Die rechteckigen Bleiibeln sind AUSGRABUNGEN UND FUNDE Suffolk, Großbritannien) bekannt. Bei dem letztgenannten Exemplar sind die Längsseiten allerdings gebogen. Sie alle werden dem früheren Abschnitt des 9. Jahrhunderts zugeordnet. Die Funde aus dem Raum Erwitte zu bewerten und in ein bestehendes chronologisches Schema einzubinden, ist nur durch Vergleiche formaler Kriterien möglich. Aber auch Vorbilder, welche die gleiche Verzierung und Größe aufweisen wie die beiden vorgestellten Stücke, sind nach dem heutigen Wissensstand unbekannt. Das leicht eingetiefte Relief der Schauseite wird sehr eindrucksvoll durch die zentral angebrachten, halbrunden Zierelemente verdeutlicht. Sie sind nicht als Noppen zu verstehen, sondern stellen unmissverständlich eine Imitation von drei eingefassten mugeligen Steineinlagen dar. Diese Zierart ist auf den Scheibenibeln der Merowingerzeit und später besonders zahlreich an sakralen Gegenständen, u. a. an Reliquiaren der Karolingerzeit, vorzuinden. Die zierlichen Proportionen der Neufunde erinnern stark an emaillierte Rechteckibeln mit geraden Kanten und kleinen Rundeln, von denen einige Exemplare aus Buntmetall auch im Umfeld der hier behandelten Fundstelle zutage kamen. Die lache bandförmige und gebogene Nadelrast, die parallel zur Nadelachse verläuft, gehörte zu den Standardmerkmalen des Fi- 125 Abb.1 Zwei karolingische Bleiibeln aus Erwitte-Bad Westernkotten. Bringt man die übereinstimmenden Verzierungsdetails in Deckung, liegt die Nadelrast des Bruchstückes – anders als bei dem vollständigen Fund (Breite 2,0 cm, Länge 3,0 cm) – auf der Gegenseite und der horizontal liegende Haken ist nach oben gebogen (Foto: LWL-Archäologie für Westfalen/H. Menne). Archäologie in Westfalen-Lippe 2010 zwar als Typ nicht unbekannt, in Fundkomplexen erwiesener Produktionsstätten sind sie aber – im Verhältnis zu anderen Formen – seltener vorzuinden. Das kleine Fragment kann man eindeutig als Fehlguss bezeichnen, was nicht nur an seinen »geschrumpften« Proportionen, sondern auch an der verzogenen Verzierung zu erkennen ist. Die Rechteckibel aus Blei und ein misslungenes Fibelfragment in einem Siedlungsareal deuten auf eine Werkstatt vor Ort hin. Diese Annahme bekräftigen, neben Blei- und Buntmetallabfall, auch vier emaillierte Rechteckibeln sowie 27 ebenfalls emaillierte runde Scheibenibeln, die alle von diesem Fundplatz stammen. Die angenommene Schmuckproduktion im Raum Erwitte wird durch das reiche Vorkommen an Rohstoffen wie Blei und Kupfer im benachbarten Sauerland mehr als begünstigt. Der Schmuck aus einem minderwertigen Material sollte die Modebedürfnisse aller Schichten zufriedenstellen, wobei das breite Publikum besonders Nachahmungen von kostbaren Exemplaren bevorzugte (Bergen 2005). Dies setzte aber eine ausreichende Kenntnis an Vorbildern voraus. Betrachtet man die unzähligen Neufunde von Fibeln aus Kupferlegierung, die in den letzten zehn Jahren in der Bördelandschaft überwiegend von Sondengängern geborgen wurden, fällt besonders die unverhältnismäßig niedrige Zahl von Bleiobjekten auf. Der Grund dafür sind vor allem die fehlenden Materialanalysen der Funde. Die Bleiibeln, wie sie bereits von Wamers (1994), Frick (1992/93), Spiong (2000) und zuletzt auch von Bergen (2005) anschaulich vorgelegt wurden, sind seit der Karolingerzeit keine Seltenheit mehr. In allen zugänglichen Fundkomplexen konnten nur zwei Exemplare aus Blei ausindig gemacht werden, die mit den Funden aus dem Raum Erwitte zu vergleichen sind. Sie sind beim Brückenbau in Pavia in der Lombardei (Italien) gefunden worden. Das eine fragmentarisch erhaltene Stück scheint mit den Objekten aus Erwitte beinahe identisch zu sein. Ob das halbrunde Zierelement beschädigt ist oder eine Kreisaugenverzierung darstellt, ist nicht zu ermitteln. Als Datierung wurde die Karolingerzeit in Betracht gezogen. Rechteckibeln mit geraden Kanten und Eckrundeln, die aber ein lacheres Relief auf der Schauseite aufweisen, sind aus Mainz (Löhrstraße) in Rheinland-Pfalz, Domburg (Provinz Zeeland, Niederlande) sowie aus Ipswich und Hasketon (beide Grafschaft AUSGRABUNGEN UND FUNDE Archäologie in Westfalen-Lippe 2010 belschmuckes seit der römischen Kaiserzeit. Im Verlauf der Karolingerzeit ist zunehmend eine weitere Art der Ansteckvorrichtung zu verzeichnen, wobei die traditionelle Anbringung weiter parallel läuft. Bei der neuen Konstruktion bestehen sowohl die Nadelrast als auch der Nadelhalter aus kleinen massiven Stegen, die quer zur Nadelachse angebracht wurden. Diese Neuerung hängt mit der geringen Größe der Schmuckstücke zusammen (Schulze-Dörrlamm 1997, 341). Die Tragweise des Schmuckes ist recht anschaulich den Bildquellen zu entnehmen, lässt sich aber aufgrund der geänderten Beigabensitten ab der Karolingerzeit in den Gräbern nicht immer bestätigen. Ob die Fibeln die Obertunika oder die Palla bei den Frauen sowie die Mäntel bei den Männern tatsächlich auch verschlossen oder nur geziert haben, kann man nur schwer eindeutig beurteilen. In der Literatur wird ihnen bis auf wenige Ausnahmen (Westermann-Angerhausen 1987; Holze-Thier 1999, 80) fast einstimmig die Funktion eines Verschlusses zugestanden. Eine solche Art der Anwendung ist aber besonders bei schweren Stoffen mithilfe einer kleinen Fibel kaum möglich. Diese würde einer kräftigen Schulter- oder Oberarmbewegung nicht standhalten. Die eigentlichen Kleidungsstücke müssten demnach nicht durch eine Fibel, sondern auf eine andere Art wie z. B. durch Bänder, Schlingen, Knöpfe oder schlichte Nadeln auf der Innenseite verschließbar gewesen sein. Eine solche »Entlastung« würde die Funktion der Fibeln als Zierelement – wie es die authentischen Bilddarstellungen verdeutlichen – auf keinen Fall infrage stellen, sondern ihre Haltbarkeit auf Dauer gewährleisten. Alle drei Merkmale – die Verzierungselemente, die Größe und die Art der Ansteckvorrichtung – indet man an zahlreichen Objekten aus Bunt- und Edelmetallen im frühen 9. Jahrhundert wieder. Aufgrund ihres eingetieften Reliefs darf man bei den Bleiibeln aus dem Raum Erwitte von einer etwas früheren Zeitstellung ausgehen, als bei den oben bereits aufgeführten Beispielen mit eher lacher Schauseite. Zwei gleicharmige Fibeln mit vergleichbarer und ebenfalls planer Verzierung stammen aus Domburg (Provinz Zeeland, Niederlande) und aus York (Grafschaft Yorkshire, Großbritannien). Sie werden aber in das 10. Jahrhundert datiert. Im Fibelspektrum des Siedlungsplatzes im Raum Erwitte beindet sich kein Exemplar aus Buntmetall, welches den Bleiobjekten als Vor- 126 bild gedient haben könnte. Spiegelt sich in den beiden Funden die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gemeinschaft, oder sind die Funde die Kreation eines Handwerkers, der seine Inspiration aus der Fremde mitgebracht hat? 6XPPDU\ A rectangular brooch and a miscast example of the same type of brooch, both made of lead, were discovered among the inds from a settlement site located in the Erwitte-Bad Westernkotten area. They were dated to the early 9th century. Other 9th and 10th century jewellery as well as metal waste from the same site suggested that they had been made on site. 6DPHQYDWWLQJ Tussen vondsten afkomstig van een nederzetting in de omgeving van Erwitte-Bad Westernkotten bevond zich, behalve een rechthoekibula, ook een misgieting van een gelijksoortig exemplaar, die beide van lood vervaardigd waren. Ze worden in de vroege 9e eeuw gedateerd. Nog meer sieraden uit de 9e en 10e eeuw en metaalafval, afkomstig van dezelfde vindplaats, laten de veronderstelling toe van fabricage ter plekke. /LWHUDWXU +LOWUXW:HVWHUPDQQ$QJHUKDXVHQ»Fibel«. In: Reallexikon zur deutschen Kirchengeschichte 8 (München 1987) 753–764. – +DQV-ÓUJ)ULFN Karolingisch-ottonische Scheibenibel des nördlichen Formenkreises. Offa 49/50, 1992/93, 243–463. – (JRQ:DPHUV Die frühmittelalterlichen Lesefunde aus der Löhrstraße (Baustelle Hilton II) in Mainz. Mainzer archäologische Schriften 1 (Mainz 1994). – 0HFKWKLOG6FKXO]H'ÓUUODPP Unbekannte Kreuzibeln der Karolingerzeit aus Edelmetall. Archäologisches Korrespondenzblatt 27, 1997, 341–354. – &ODXGLD+RO]H7KLHU Die Pfarrkirche St. Johannes Baptist zu Attendorn. Die Ausgrabungen von 1974. Denkmalplege und Forschung in Westfalen 36 (Essen 1999). – 6YHQ6SLRQJ Fibel und Gewandnadeln des 8. bis 12. Jahrhunderts in Zentraleuropa. Eine archäologische Betrachtung ausgewählter Kleidungsbestandteile als Indikatoren menschlicher Identität. Zeitschrift für Archäologie des Mittealters, Beiheft 12 (Bonn 2000). – 6WHIDQ7KÓUOH Gleicharmige Bügelibeln des frühen Mittelalters. Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie 81 (Bonn 2001). – &KULVWLDQ%HUJHQ Technologische und kulturhistorische Studien zu Bleifunden im 1. Jahrtausend. Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie 125 (Bonn 2005).